Einbeeren

Mit Paris quadrifolia, der Einbeere, beherbergt der Botanische Garten des CID Institutes eine Pflanzenart, die zusammen mit anderen, zuvor in der Familie der Liliaceen eingeordneten Gewächsen, neu zur Familie der MELANTHIACEAE oder GERMERGEWÄCHSE zusammengefasst wurden, insbesondere weil sie über teilweise potente, toxische Inhaltsstoffe in teilweise hohen Konzentrationen verfügen sollen.

Die Zugehörigkeit von Paris quadrifolia zu den Liliengewächsen ist auf den ersten Blick hin kaum ersichtlich, denn die insgesamt aussergewöhnliche Erscheinungsform der Pflanze weist zwar eine endständige Blüte an der Spitze des Stengels auf, doch entspricht die Blütenform in ihrer Gestalt wenig den Attraktionsorganen vergleichbarer Pflanzen. Unterhalb der Blütenkrone ist auch nur ein einziger, zirkulärer Blattkreis angeordnet, der zwar zumeist aus 4 Blättern besteht, was den Artnamen "quadrifolia" begründet, aber durchaus auch aus 5 oder sogar 6 Blättern zusammengesetzt sein kann.

Über dem einzigen, dunkel-blaugrün gefärbten Blattkranz des Pflanzen-Stengels der Einbeere erhebt sich ein zweiter Kranz aus blattähnlich geformten und grün gefärbten Blütenelementen, so dass die Blüte der Pflanze als solche zuerst nicht wahrgenommen wird. Sie wird gebildet aus 2 Ringen mit unterschiedlich breit geformten Blättchen, die entweder den Kelch- und Blütenblättern entsprechen oder aber asymmetrisch geformte Kronblätter sind, wobei aber die 6-Zähligkeit der standardtypischen Lilienblüte nicht eingehalten sondern überschritten wird. 



Blüte von Paris quadrifolia bestehend aus einem Doppelkranz von 5 + 5  breiteren und lanzettlich-schmaleren, blattgrünen Kronblätter (oder Kelch- und Kronblättern) sowie einem weiteren Kranz aus 10 aufgerichteten, die gelben Staubgefässe tragenden, lanzettlichen Blättchen. 


Die im Botanischen Garten des CID Institutes registrierte zahlenmässige Kombination der Kelch-Kronen-Staubgefäss-Blätter beträgt sowohl 5+5+10 als auch 4+4+8, wobei nicht notwendigerweise eine Korrelation zur Zahl der 4 oder 5 Laubblätter existieren muss. 

Zwischen den Staubgefässen wächst im Fortschritt der Blütenbildungsphase die einzige Frucht der Pflanze heran, zuerst in Form einer schwarzen Beere, an deren Aussenseite sich andeutungsweise die Kammerung der Fruchtkapsel abzeichnet und die auf ihrer Oberseite 4 fadenförmige Auswüchse trägt, die sich dann später zurückbilden werden. Mit zunehmender Fruchtreife nimmt die Beere dann kugelig-rundliche Gestalt an und ihre Färbung wandelt sich langsam ins bläuliche, so dass sie in etwa der Farbe der Frucht der Preiselbeere ähnelt. 

Wohl enthält die Fruchtkapsel auch Samen, aber die Eigenheiten des Befruchtungsmechanismus sind hier nicht bekannt, insbesondere ob spezifische Insekten für den Bestäubungsvorgang notwendig sind. Insektenbesuch an den Einbeeren-Blüten wurde bisher noch nicht beobachtet. Die Vermehrung von Paris quadrifolia erfolgt im Botanischen Garten des CID Institutes einzig über die Wurzelrhizome der Pflanzen, die ein sich rasch ausbreitendes Rhizom-Netzwerk bilden, aus dessen unterirdischen Sprossen in gewissen Abständen dann die neuen Triebe der Pflanzen des nächsten Jahres austreiben. Diese Reproduktionsrate ist sowohl an schattig-feuchten als auch an xerothermeren Wuchsplätzen im Garten etwa gleich stark. Das heisst, dass die Einbeere neben ihren Typus-Standorten dunkle, schattig-feuchte Wälder und Auwälder theoretisch auch andere Standtorte besiedeln könnte. Dass sie bei uns in der Natur überhaupt nur noch an wenig vom menschlicher Aufmerksamkeit frequentierten Stellen vorkommt mag seinen Grund darin haben, dass der Pflanze sowohl eine mystische Bedeutung als auch eine starke Giftwirkung zugeschrieben wird, was zur Konsequenz hatte, dass sie an stärker von Menschen frequentierten Orten aktiv beseitigt wurde.




Einbeeren an einem ihrer wechselnden Standorte im Botanischen Garten des CID Institutes 


Die Wirkung des Konsumes einer Einbeere wurde im CID Institut noch nicht getestet, doch existieren durchaus auch Literaturzitate, die ihre Essbarkeit hervorheben. So schreibt Leonhartus Fuchs in seinem NEW KÄEUTERBUCH von 1543, dass zwischen der Blüte der Pflanze ein "viereckets knöpflin, so wie ein äuglin anzusehen" zur Frucht heranwächst, die "eins wilden, doch süssen Geschmacks" sei. Da Fuchs nach seiner Beschreibung der von ihm DOLWURTZ genannten Einbeere auch noch die HOLWURTZ beschrieb, muss er also den Beeren-Geschmackstest überlebt haben. Über seine Erfahrung mit ihrer Wildheit schweigt der Gelehrte allerdings, so wie es von ihm als echtem Manne auch zu erwarten wäre. 

Die Dolwurzt wird in Fuchs´ens Pflanzen-Enzyclopaedie zusammen auf einer Seite mit der Wolffswurtz - dem gelben Lerchensporn - beschrieben und beide Pflanzen werden dort miteinander verglichen. Dies tut Fuchs vermutlich wegen derer Namensähnlichkeit und um beide unverwechselbar voneinander zu machen, denn die Einbeere trug damals den Namen WOLFFSBEER während  man den gelben Lerchensporn WOLFFSWURTZ nannte. Nun weist Fuchs allerdings in seinem Text mehrfach darauf hin, dass beide Pflanzen gut geeignet seien, den Wolf zu töten - was auch immer dies bedeuten mag, denn ausser Rotkäppchens Grossmutter hatte kaum jemand einen Wolf im Zimmer den man mit einer Einbeere hätte vergiften können. 

Doch bevor wir hier die Deutsche Märchenwelt verlassen sei noch erwähnt, dass Fuchs beiden Kräutern attestiert, sie seien "einer brennenden Natur" und "sollen in den Leib nit genommen werden". Man könnte das auch so interpretieren, dass Pflanzenteile einen bitter-scharfen Geschmack haben und nicht ingestioniert werden sollten, da sie sonst Magenbrennen verursachen würden. Nimmt man sie doch in den Leib, so hat das wohl Konsequenzen. "Die Wolffsbeer tötet den Wolf, so man´s in das rohe Fleisch steckt, und jenen zu essen vorwirft" Da kaum vorstellbar ist, dass man um 1543 Wölfe im Wald jagte, sie anpickste und ihnen dann eine Einbeere injiziierte muss Fuchs wohl etwas anderes gemeint haben, was er nicht anders sagen konnte, doch WOLLF und WOLFF gesellt sich gern.

In Grossbritannien, wo man weniger kompliziert ist als in Deutschland und unverbrämt sagt, was man denkt, nennt man die Einbeere auch "True Lovers Knot", eine Verknüpfung also, die Verliebte aneinander bindet. Eine im Aberglauben giftige Frucht, deren tödliche Wirkung man aber durch wahre Verliebtheit überwinden kann, wenn beide bei der Liebesprobe gleichzeitig eine Einbeere verschlucken ? War die Liebe Wahrheit so überlebte man den Test. Oder eine Aphrodisiaka-Pflanze, deren mystische Bedeutung als tödliche Gefahr zuerst die Phantasie eines Paares anregte und dann deren so gesteigerte Lust die sexuelle Vereinigung zum festen Band ihrer Beziehung werden lässt ? Wie das mit Medikamenten nun mal so ist - die Wirkung der Droge ist immer abhängig davon, wer sie dir gibt und was er dir dabei sagt oder denkt.

Zur angeblichen Toxizität der Einbeeren-Pflanze werden unterschiedliche Warnungen ausgestossen, die alle Pflanzenteile betreffen. Als Wirkstoffe benannt sind die "ekelhaft bitter-kratzend schmeckenden" Glykoside Paristyphnin und Paridin. Tatsache scheint zu sein, dass die Blätter von Paris quadrifolia beim Mazerieren einen unangenehmen, "widerlich betäubenden" Geruch freisetzen und die Wurzeln starke Bitterstoffe beinhalten und "beissend riechen". Paristyphnin zersetzte sich beim Kochen mit verdünnten Säuren in Paridin und Zucker. Als Wirkung bei Ingestion der gesamten Pflanze, insbesondere aber von Wurzel und Beere, werden Magenkrämpfe, Übelkeit, starker Brechreiz, Betäubungsgefühl, Sehstörungen und bis zum Tode führende Atem-Lähmungen genannt. Doch war die Einbeere über Jahrhunderte hinweg immer eine Medizinalpflanze, die zur äusserlichen Behandlung von Leiden verwendet wurde. Um nochmals zu Leonhart Fuchs zurückzukehren gibt dieser eine Rezeptur zur biologischen Bekämpfung von Läusen, Nissen und Hautleiden. Dazu "zerstosse man Pflanzenteile, Samen und Wurzel in grünem Zustand, oder macht daraus ein getrocknetes Pulver, vermischt es mit Öl und bereitet daraus eine Salbe zu". Gleiche Wirkung zur Abtötung von Läusen und Nissen habe die in Wasser gesottene Wurzel, mit deren Extrakt man sich dann die Haare waschen könne. Allerdings warnt Fuchs an dieser Stelle nochmals ausdrücklich und eindeutig, dass man diese Kräuter "nicht innerlich brauchen und nicht in den Leib nehmen solle, denn sie seien tödlich".




Tödliche Einbeere


Für alle Pflanzen gilt, dass sich die chemische Zusammensetzung ihrer Wirkstoffbestandteile im Verlauf ihrer Entwicklung verändert. Das bedeutet, in einem bestimmten Moment toxisch wirkende Substanzen werden während des Wachstums- und Reifungsprozesses der Pflanze langsam synthetisiert und bei Ablagerung im Pflanzengewebe an bestimmten Stellen aufkonzentriert. In einem bestimmten Moment beginnt dann wieder die Transformation der Lagerstoffe, beispielsweise während Reifungs- und Dekompositionsprozessen.  Deswegen schmecken beispielsweise auch Orangen in grünem Zustand sauer und dann bei zunehmender Reifung süss. Da der Einbeeren-Fruchtstand wochen- oder monatelang auf der Pflanze "sitzen" bleibt, ist es somit vermutlich sehr abhängig von dem Moment der Reifungsphase, an dem man versucht, ihn zu essen. Wenn also Paristyphnin unter Säureeinwirkung in Paridin und Zucker zerfällt, so könnte dies darauf hinweisen, dass Leonhart Fuchs den "süssen und wilden" Geschmack der Einbeere genossen hat, als deren Frucht bereits am Beginn des Überganges zur Überreife war, da bei Fäulnisprozessen auch Frucht-Säuren umgewandelt werden und so Fruchzucker in höheren Konzentrationen entsteht. Das heisst also, dass es immer auf den richtigen Moment ankommt, wann man dann doch in eine verbotene Beere oder in einen verbotenen Apfel beissen darf.  




Paris quadrifolia - Einbeere
im Botanischen Garten des CID Institutes in Weilmünster



"Parisette á quatre feuilles" wird die Pflanze im Französischen genannt, ebenso Etrangle-Loup (Wolfswürgerin), Paris-Kraut und Raisin de Renard (Fuchs-Traube). Im spanischen Sprachgebrauch verhält es sich ähnlich, dort heisst es Uva de Zorra (Traube der Füchsin),  Uva de Raposa (Fuchsige Traube) und Paris-Kraut. Die Dänen nennen es "Vierblatt", die Kroaten "Krähenauge" und in Russland heisst es "Vierblättriges Krähenauge" oder "Pariser Gras / Kraut". In China nennt man die Einbeere den "Vierblättrigen Turm".

Wäre die Einbeere, so wie ihr Name bisweilen vermuten lässt, ein traditionell zur sexuellen Luststeigerung konsumiertes,- wirksames Aphrodisiakum, so würde sie heute nicht nur vergessen in versteckte Waldecken wachsen sondern, wie etwa Chontaduro-Palmfrüchte in Cali, geröstete Blattschneiderameisen-Königinnen in Santander oder Gürteltiere in China erfolgreich vermarktet. Der Name "Traube der Füchsin" und "Pariser Gras" weist zwar darauf hin, dass die Frucht von weisen Frauen mit grossem erotischen Erfahrungsschatz angewendet worden sein könnte, um ihre Gespielen damit anzuregen, doch konnte sich diese Rezeptur wohl auf Dauer nicht unbedingt halten, denn sonst würden Einbeeren-Rosinen heute im Internet teuer verkauft. Somit wäre den bisweilen erwähnten Nebenwirkungen also doch eine gewisse Probabilität zuzumessen.

Es wäre allerdings unangemessen, hier nur die ungeklärte Frage der potentiellen Toxizität oder Aphrodisiaka-Wirkung der Einbeere ins Zentrum des Interesses zu stellen, das die Pflanze verdient. Allein ihre Wuchsform erregt schon Aufmerksamkeit genug, was ja eingangs des Kapitels schon in der Betrachtung ihrer aussergewöhnlichen Blüte Referenz fand. Und noch ein weiterer Aspekt der Einbeeren-Entwicklung ist so ungewöhnlich, dass sie vermutlich auch schon deswegen in den Anfangsjahren rationaler Biosystematik zu den magischen, verhexten oder verzauberten Pflanzen gestellt wurde. 

Ihren einzigen, vierblättrigen laubgrünen Blattkranz bildet Paris quadrifolia nämlich schon unterirdisch aus. Natürlich sind ihre Blätter dabei zuerst noch nicht entfaltet, sondern zylindrisch eingerollt um den Kopf ihrer Sprossachse herum, so dass der junge Pflanzenaustrieb zuerst mit diesem "botanischen Bohrkopf" voran seinen Weg vom Rhizom aus zur Erdoberfläche bahnt, bevor er dann zu einer Stengel-Höhe von 5-10 Zentimetern über dem Erdboden aufwächst, um dann dort langsam seinen Kopfschutz wie einen Schirm aufzuspannen. Dabei gibt die schraubenförmige Blattspindel die von ihr geschützte Blütenknospe frei, die aber, bevor sie sich nun selbst entfaltet, erst noch etwa ein weiteres Drittel der Stengelhöhe emporwächst, um sich dann langsam zu öffnen.




Aus dem Erdreich austreibende Triebspitze von Paris quadrifolia mit noch eingerollter Blattspindel. Die Sprossachsenspitze der aufwachsenden Pflanze ist noch nach abwärts gebogen und wurde für die fotografische Aufnahme vom umgebenden Erdboden befreit. Bereits vor dem Erreichen der Erdoberfläche ist die Blattspindel grün, das heisst die Synthese des grünen Blattfarbstoffes Chlorophyll beginnt schon vor dem Kontakt mit dem Sonnenlicht. 











Schraubenförmig eingerollte Blattspindel des einzigen vierblättrigen Blattkreises  der Einbeere, der schon vor dem Austreten aus dem Erdboden ausgebildet ist.





Blattkränze der Einbeere bei ihrer Entfaltung. Vom zylindrischen Blattkonus wird die Blütenknospe geschützt..



Mit dem Charakteristikum der unterirdischen Blattbildung steht die Einbeere im Pflanzenreich allerdings nicht alleine. Die Neuaustriebe von Convallaria maijalis, dem Maiglöckchen, treten im Frühjahr in sehr ähnlicher Art und Weise aus dem Boden. Vergleichbar mit dieser verwandten Lilienart ist auch die Bildung von Rhizomnetzwerken. 



10.4.2022
Dipl. Biol. Peter Zanger




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